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Das Heilige und das Profane

René Guénon - Shaykh `Abd Al Wahid Yahya
Von www.livingislam.org

Wir haben bereits oft erklärt[fn1], daß in einer vollkommen traditionellen Gesellschaft jegliche menschliche Aktivität, dh. welcher Art auch immer, einen heiligen Charakter besitzt. (Das ist so,) weil die Tradition definitionsgemäß nichts außer sich selbst läßt, ihre Anwendungsbereiche dehnen sich daher ausnahmsslos auf alle Dinge aus. (Dies geschieht auf eine Art und Weise, daß) nichts - im Verhältnis zur Tradition als indifferent oder bedeutungslos angesehen werden kann. Außerdem, was auch immer jemand tut, so ist doch seine Teilhabe an der Tradition andauernd durch eben seine Handlungen gewährleistet. Sobald gewisse Dinge vom traditionellen Standpunkt ausgeschlossen werden, oder als profan angesehen werden, was auf das gleiche hinausläuft, so ist dies ein deutliches Zeichen für eine eingetretene Degeneration, die mit einer Schwächung und Verwässerung der Tradition einhergeht: In der menschlichen Geschichte ist eine solche Degeneration natürlich verbunden mit dem niedergehenden Trend der zycklischen Entwicklung[fn2]. Offensichtlich gibt es dabei verschiedene Grade, aber als allgemeine Regel kann feststellt werden, daß heute[fn3] sogar bei Zivilisationen, die früher einen ganz klar traditionellen Charakter bewahren konnten, ein gewisser Anteil des täglichen Lebens dem Profanen überlassen worden ist, als eine Art erzwungenes Zugeständnis an eben diese Bedingungen der Zeit. Das soll jedoch nicht heißen, eine Tradition könne jemals den profanen Standpunkt als legitim anerkennen, würde das doch darauf hinauslaufen, sich selbst zu verleugnen - zumindest teilweise und entsprechend dem Grad an Spielraum, der dieser Sichtweise gewährt wird. In allen [historisch] aufeinander folgenden Anpassungen der Tradition kann sie nur prinzipiell, wenn auch nicht de Fakto, die Gültigkeit ihres eigenen Standpunktes behaupten, eines Standpunktes der wirklich für alles gültig ist und alles gleichermassen umfaßt.

Aufgrund ihres wesentlich anti-traditionellen Geistes, ist die moderne westliche Zivilisation einzigartig indem sie das Profane an sich gutheißt und es sogar als 'Fortschritt' betrachtet, wenn ein stetig grösser werdender Anteil des menschlichen Lebens (in das Profane) einbezogen wird[fn4]. Tatsächlich - es ist wahr - für den modernen Geist existiert nichts außer dem Profanen, und letztendlich zielt all seine Streben auf die Leugnung oder den Ausschluß des Heiligen. Die Verhältnisse sind jetzt die umgekehrten: Während eine verwässerte traditionellene Zivilisation die Existenz des profanen Standpunktes noch als unvermeidliches Übel ertragen kann und versuchen wird, seine Folgen so weit als möglich zu begrenzen; wird in der modernen Zivilisation im Gegenteil das Heilige eben toleriert und zwar nur deshalb, weil sie es nicht mit einem einzigen Schlag zerstören kann. Und während sie auf die vollständige Verwirklichung ihres 'Ideals' wartet, steht sie dem Heiligen eine immer geringere Rolle zu, indem sie ganz darauf aus ist, den letzten Rest (des Heiligen) hinter einer undurchdringlichen Barriere zu isolieren.

Der Übergang von der einen zur anderen dieser einander entgegengesetzten Geisteshaltungen deutet auf die Überzeugung hin, es gäbe nicht nur einen profanen Standpunkt, sondern auch einen profanen Bereich. Das soll heißen, es gäbe Dinge, die an und für sich profan sind, gemäß ihrer inneren Natur und nicht wie in Wirklichkeit, als Resultat einer bestimmten Denkweise. Dieses Gutheißen eines profanen Bereichs, der ungerechtfertigterweise den einfachen de Facto Zustand in einen Gesetzeszustand verändert, ist eine der grundlegenden Vorraussetzungen des anti-traditionellen Geistes, denn erst durch das Eintrichtern dieser falschen Auffassungen in das Denken der Allgemeinheit, kann er hoffen sein selbsterklärtes Ziel zu erreichen, nämlich das Heiligen verschwinden zu lassen, oder anders ausgedrückt, die Ausrottung der Tradition, bis hin zu ihren letzen Spuren.

Man braucht sich doch nur umzusehen[3] um festzustellen, wie weit es dem modernen Geist gelungen ist, seine sich selbst auferlegte Aufgabe zu erfüllen. Sogar jene, die sich als 'religiös' ansehen, d.h. bei denen mehr oder weniger bewußt noch etwas vom traditionellen Geist übrig geblieben ist, betrachten die Religion nur als etwas von anderem ganz Getrenntes, in der Tat dermaßen begrenzt, daß sie keinen effektiven Einfluß auf den Rest ihres Lebens nimmt, wo sie genau so wie ihre irreligiösesten Zeitgenossen denken und handeln. Am schlimmsten ist, daß diese Leute nicht so handeln, weil sie sich durch die Zwänge ihres sozialen Umfelds dazu gezwungen fühlen, denn dann wären sie in einer beklagenswerten Lage aus welcher sie nicht entrinnen könnten. Wäre das der Fall, wäre es annehmbar, denn sicherlich kann man nicht von jedermann verlangen, den notwendigen Mut aufzubringen, um sich offen gegen den herrschenden Trend der Zeit zu stellen, was auch sicherlich in vielerlei Hinsicht nicht ohne Gefahr wäre. Jedoch sind die Leute - so weit das der Fall ist - dermaßen vom modernen Geist beeinflußt, daß sie - wie alle anderen auch - die Unterscheidung und sogar die Trennung des Heiligen vom Profanen als vollkommen legitim ansehen. Auch sehen sie in den traditionellen und normalen Strukturen einer Zivilisation nichts anderes als die Verwechslung zweier verschiedener Bereiche, (eine 'Verwechslung') die auf vorteilhafte Art und Weise durch 'den Fortschritt' überwunden und abgeschafft!

Mehr noch, eine soche Geisteshaltung - schwer verständlich bei Personen, die sich religiös bezeichnen und selbst so sehen - ist nicht länger nur die Geisteshaltung der 'Laien'. Bei letzteren wäre sie einer gewissen, teilweise entschuldbaren, Ignoranz zuzuschreiben; sondern eben dies scheint heutzutage die Geisteshaltung einer stetig größer werdender Zahl der Geistlichkeit zu sein, jene die anscheinend nicht verstehen, wie sehr sie der Tradition zuwider ist. Hier meinen wir die Tradition an sich, daher die Tradition die sie selbst representieren sowie jede andere traditionelle Form. Ausserdem hat man uns darauf aufmerksam gemacht, daß einige (der Geistlichen) so weit gehen daß sie den Zivilisationen des Ostens vorwerfen, noch ein - durch das Geistige durchdrungene - soziales Leben zu haben, und darin eine der Hauptursachen ihrer angeblichen Unterlegenheit unter der westlichen Zivilisation sehen! Hier bemerken einen weiteren merkwürdigen Widerspruch: Der Klerus mit den stärksten Modernismustendenzen erweist sich als deutlich engagierter im sozialem Bereich als in der [geistigen, traditionellen] Lehre; jedoch da sie die Profanisierung[5] der Gesellschaft anerkennen und sogar gutheißen, [stellt sich die Frage], warum sie im sozialen Bereich [überhaupt) einschreiten? Da sie ja glauben, der traditionelle Geist solle von den Aktivitäten der sozialen Ordnung ganz und gar getrennt sein, kann es sich nicht um den [eigentlich] legitimen und wünschenswerten Versuch handeln, [dort] ein kleines Körnchen des traditionellen Geistes einzuführen. Ihr Einschreiten [im sozialen Bereich] ist daher ganz unverständlich, es sei denn wir gestehen ein, daß ihr Denken von Grund auf unlogisch sei, was ja auch zweifelsohne bei vielen unserer Zeitgenossen der Fall ist. Wie dem auch sei, hier gibt es ein überaus beunruhigendes Phänomen. Wenn die authentischen Representanten einer Tradition soweit gekommen sind, daß sich ihre Denkweise nicht merkbar von der ihrer Widersacher unterscheidet, müssen wir uns wundern, wieviel Lebenskraft zum gegenwärtigen Zeitpunkt in dieser Tradition (überhaupt) noch steckt. Und da es hier um die Tradition der westlichen Welt geht, welche Möglichkeiten sie zu einer Wiederherstellung unter diesen Bedingungen hat, wenigstens wenn wir uns auf den esoterischen Bereich beschränken und andere Möglichkeiten nicht ins Auge fassen? [fn6]

fn1 RG hat diese These in vielen wenn nicht allen seiner Werke betont

fn2 Es gibt Zyklen in der menschlichen Entwicklung, wobei die früheren Zeitalter eines Zyklus besser sind als die späteren, alle Traditionen berichten auf ihre Art davon

fn3 RG schrieb das bereits in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, was würde er sich heute äussern?

fn4 Heute gibt es umgekehrt wohl überhaupt keinen 'Anteil des menschlichen Lebens', der nicht durch das Profane einbezogen worden ist.

fn5 Original im Text: 'laicization'

fn6 Die Hoffnung einer Wiederherstellung der Tradition der westlichen Welt ist ganz abhnanden gekommen in den fast sechzig Jahren seitdem dies geschrieben wurde, die Tradition hat heute in der westlichen Welt andere Wege gefunden.